Der Abschied
Ein letztes Mal bestieg ich Three Ear, ritt mit ihm zum Stall und ließ ihn mit den anderen Pferden auf die Weide. Dann band ich meine Sachen von dem Sattel ab - meine Jeansjacke, in deren Taschen ich Taschenmesser, Lederhandschuhe und Ersatzfilme aufbewahrt hatte, meine nutzlose Regenjacke, die den Regen schon nach wenigen Minuten durchließ, und die zur Satteltasche umfungierte Bauchtasche, in der ich meinen Fotoapparat, einen Ersatzfilm, einen Labellostift und ein Sturmfeuerzeug immer griffbereit hatte.
Ich wischte mit einem Tuch ein paar Matschflecken von dem Sattel, sah mich prüfend im Stall um, ob alles ordentlich war, und löschte dann das Licht.
Im Ranchhaus briet Monte sich gefrorenen Speck in der Pfanne - er musste wirklich Hunger haben. Ich begnügte mich damit, Liz' Original-Reis-Matsche in der Microwelle aufzuwärmen und dann dem Hund zu geben.
Schließlich verabschiedete Monte sich von mir, ich umarmte ihn kurz - dann war er weg. 
Ich ging ins Wohnzimmer, rauchte ein Zigarette. Greg gesellte sich dazu, wir unterhielten uns ein wenig. Er schlug vor, dass wir zu seinem Zelt gehen, dort im Mondschein sitzen und weiter quatschen könnten, aber es war schon ein Uhr, um halb vier musste ich aufstehen. Statt dessen gingen wir in das Billardzimmer, wo Greg sich auf das Sofa legte und mich um eine Gute-Nacht-Geschichte bat. Mir fiel keine ein, darum schlug ich vor, er solle doch ein Gute-Nacht-Lied singen. Seine Gitarre stand an der Wand, er setzte ich auf und griff danach. So war das von mir gar nicht gemeint gewesen, aber wenn er sie schon mal in der Hand hatte ...
"Du hast ein ganz tolles Lied geschrieben, mir fällt leider nicht mehr ein, wie er hieß, aber ich liebe diesen Song ..." - was nutzte es, ich hatte schon mal versucht, ihn dazu zu bringen, dieses Lied zu spielen, aber er wusste nicht, welches ich meinte, er hatte viele Songs selbst geschrieben.
Er spielte ein paar Akkorde auf der Gitarre - "Das ist es!" rief ich glücklich. "Black heart" sei der Name des Songs. Sehr treffend. Ich erinnere mich nur noch an den Refrain: "I should have known better - I wasn't that clever - I'm now feeling better ..." - die Melodie des Liedes war einfach umwerfend. Er spielte es zwei mal für mich, die deutsche Touristin.
Dann erzählte ich ihm seine Gute-Nacht-Geschichte.
"Es war einmal ...", ich unterbrach mich. "So beginnt man doch, oder? Mit 'es war einmal' ...?"
Greg grunzte nur.
"Also - es war einmal ein Land sehr sehr weit entfernt über dem Ozean, dort lebten sehr viele Menschen. Diese Menschen in dem Land sehr sehr weit entfernt über dem Ozean kannten in ihrem Leben nur arbeiten, essen und schlafen, sonst nichts. Eines Tages kam einer dieser Menschen aus dem Land sehr sehr weit entfernt über dem Ozean nach Amerika, zur Lake Ranch. Dort lernte dieser Mensch, was Leben ist, was es wirklich heißt zu Leben. Und als dieser Mensch zurückkehrte in sein Land sehr sehr weit entfernt über dem Ozean, da ..."
... da wusste ich nicht weiter. Und stellte fest, dass Greg sowieso schon schlief. Wahrscheinlich war er schon bei "es war einmal" eingeschlafen.
Ich drückte meine Zigarette aus und schlich mich in mein Zimmer.
Für mich war dies der beste Abschied gewesen, den ich mir wünschen konnte.

Die Rückkehr

Ich hatte vorm Schlafen gehen noch geduscht und hörte danach, es musste schon gut zwei Uhr sein, die anderen vom Rodeo wiederkommen. Vielleicht verschlief Ferdinando ja, ich verpaßte durch seine Schuld meinen Flug und konnte so noch ein oder zwei Tage bleiben ...
Ich war es, die trotz zwei gestellten Weckern verschlief - um zwanzig nach vier klopfte Ferdinando an meiner Tür. Um halb mussten wir los, mir blieben grade noch zehn Minuten zum Zähneputzen, anziehen und restliche Sachen in meine Taschen schmeißen. 
Unter Fluchen schaffte ich es tatsächlich nach zehn Minuten verstrubbelt in der Küche aufzutauchen und Ferdinando mit einem "Fertig! Das war Rekordzeit, gelle?" zu begrüßen. Der hatte seinen Humor mal wieder irgendwo eingeschlossen und räumte weiter die Spülmaschine aus, anstatt Kaffee zu kochen.
Gegen zehn vor vier brachen wir auf, ich hatte auf meinen Kaffee bestanden, aber im Endeffekt wartete ich auf Ferdinando, der in seiner Arbeit mit der Spülmaschine regelrecht aufging.
Ich wollte mich auf dieser Fahrt eigentlich mal ernsthaft mit ihm unterhalten, aber auf den ersten paar Meilen war ich nicht in Stimmung, und in Hulet hielt Ferdinando plötzlich an und lud einen der Elektriker ein. Da war es sowieso aus mit einem Gespräch unter vier Augen. 
Er fragte mich unterwegs, ob ich wieder zur Lake Ranch kommen würde.
"Nein, ich glaube nicht," antwortete ich.
Zu sehr hatte ich mich mit dem Ranchleben identifiziert, aber als Gast war und blieb ich ein Gast - ich wußte nicht, ob ich das ertrgen könnet.
Zuviele Freiheiten hatte ich mir herausgenommen, als ich ein paar Tage alleine auf der Ranch war, die ich mir nicht wieder würde nehmen können. Ich würde, wie in den ersten Tagen, wieder "nur" Gast sein. Ich hatte auch diese Tage genossen, aber das war mir jetzt nicht mehr genug. Es war gut gewesen, um die Ranch kennenzulernen, aber richtig aufgegangen war ich erst in den sinnvollen Aufgaben, die ich übernehmen konnte. Die Pferde reinholen. Gregs Pferde zu trainieren. Die Ranch gut genug zu kennen um bewusst nach Rindern Ausschau zu halten. Die anderen Gäste auf interessante Ausritte führen. Den Stall und die Sattelkammer in Ordnung zu halten. Die Pferde mit Wasser und Wundsalbe zu versorgen, ihre Hufe zu raspeln, ihre Zaumzeuge zu ölen, ihre Stärken und Schwächen zu kennen. Auf einer Ranch zu arbeiten - keinen Urlaub zu machen. Das war mein Traum. 

Nachdem ich am Flughafen eingecheckt hatte, blieben mir noch fünfzehn Minuten, um eine Zigarette zu rauchen. Ferdinando und der Elektriker schienen mir noch Gesellschaft leisten zu wollen - das kam mir reichlich albern vor, der Elektriker war zwar ein netter Typ, aber ich kannte ihn nur flüchtig, und Ferdinando würde über den Abschiedsschmerz von mir sicherlich leicht hinwegkommen. Ich sagte also, sie bräuchten nicht zu warten, sie könnten ruhig losfahren.
Ferdinando, ganz Geschäftsmann, meinte, ich solle wieder zur Lake Ranch kommen. Ich, ganz das Biest, für das er mich hielt, sagte: "Ja, klar. Wenn in für meine Arbeit von euch bezahlt werde."
Sie fuhren los, ich blieb vor dem Flughafengebäude stehen und konnte endlich ungestört meinem Abschiedsschmerz fröhnen. Eine amerikanische Fahne flatterte im Wind, aber ich fand meinen Fotoapparat nicht. Vielleicht lag er in Ferdinandos Auto oder in meinem Zimmer auf der Lake Ranch.
Von Denver aus, wo ich eine Stunde Zeit hatte bis zum nächsten Flieger, rief in auf der Lake Ranch an. Max war am Telefon. Ich bat ihn darum, nach meinem Fotoapparat zu sehen. Er versprach, nachzuforschen und gab mir dann Greg. 
Es sei tolles Reitwetter, meinte er, angenehm kühl. Wie es denn in Denver sei? 
Zu viele Menschen, sagte ich, viel zu viele Menschen. 
Ich sollte zurück kommen, meinte er. 
Ja, stimmte ich zu. Am besten mit dem nächsten Flieger zurück nach Rapid City, statt nach Chicago zu fliegen. 
Er fand diese Idee klasse. 
Und man dürfe hier nirgendwo rauchen, fügte ich hinzu. Ich müsse unbedingt eine Raucherzone finden, damit ich mir eine anstecken konnte und nicht anfinge zu heulen. Dann legte ich auf. Ich fand eine Raucherzone, aber sie konnte mich nicht daran hindern, ein ziemlich peinliches Bild abzugeben ... 
In Chicago hatte mein Flieger nach Frankfurt zwei Stunden Verspätung.
Als ich endlich meinen Sitzplatz für den achtstündigen Flug einnehmen konnte, landete ich einen absoluten Glückstreffer damit. Mittlerer Sitz in mittlerer Fünferreihe, links neben mir ein zweijähriges Kind, das fünf Stunden lang das halbe Flugzeug wach hielt und dann von der dreifachen Mutter gegen zwei sechs- und siebenjährige Kinder ausgetauscht wurde, die mich beim toben permanent traten; rechts der ewige Zug der allgemeinen Klimaanlage auf dem Auge, so dass ich mir schließlich eine Decke über den Kopf ziehen musste, damit mein rechtes Auge aufhörte, von dem kühlen Luftstrom zu tränen. 

In Frankfurt erwischte ich knapp den Anschlußflug nach Köln und konnte mich dort auch nicht mehr darüber aufregen, dass mein Gepäck unterwegs irgendwo verloren gegangen war.
Mein Bruder holte mich am Flughafen ab: "Hi Heike! Wie war es?"
"Nenn mich einfach Calamity Jane."
Es war toll. Aber das Gefühl, das mich mit diesem Land verbunden hatte, ließ sich nicht in Worte packen. Wie sollte ich es erklären, das Gefühl, das mich überkam, wenn ich auf den Pferderücken stieg und zu einem neuen Ausritt aufbrach. Der glänzende Blick eines Touristen, dem ich den Wilden Westen etwas näher bringen konnte; die reparierte Trense, die ich zufrieden in die Sattelkammer hängte; der gefüllte Wassertrog, um den sich die Pferde drängten; der geflickte Zaun, der nun kein Schlupfloch mehr für eine Kuh bot; das schnaubende Pferd, das im Morgengrauen in der Hoffnung auf eine Handvoll Hafer auf mich zugaloppierte; das schlabbernde und grunzende Geräusch der Rinder, die sich um einen Leckstein drängen; die Pferdeherde, die durstig aus dem Wasserloch soff, zu dem ich sie gebracht hatte; Liz, die sich vor Lachen auf die Knie schlug, wenn ich die Pferdeherde hereinbrachte; der Stier, der ärgerlich den Kopf drehte, nachdem ich ihn durch das Tor zurück auf seine Weide getrieben hatte - das weite Land, das sich vor meinen Augen ausbreitete. 
Davon konnte man nicht erzählen. Das waren Dinge, die sich im Herzen abspielten. 
Noch während ich die Pilzkulturen in meinen Gefrierschrank eliminierte, die sich nach einem Stromausfall aus Pizza, Eis, Lasagne und Brot gebildet hatten, wurde mein Gepäck von der Fluggesellschaft vor die Haustür geliefert. 
Das war auch gut so, denn darin befanden sich vierzehn Filme mit Bildern von Gumbo, Chestnut, Pit und Kumpeln; Kojoten, White Tails, Antilopen, Adlern und Schlangen; Greg, Max, Elena, Liz und Co; Hunden, Katzen und Rindern und - natürlich - der 

LAKE RANCH

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